Veröffentlicht am 26.06.2023
Identität und Werte im digitalen Zeitalter
Abstrahierte "Fratzen", die durch kalligraphische Linien entstehen, Wimmelbilder auf alten Fahrkarten, Landkarten, Fundstücken, oder auch alten Fotos und Ausweispapieren. Das bildet den Schwerpunkt der Werkreihe "Übermalungen" des Künstlers Peer Kriesel. Inspiriert durch das Spannungsfeld zwischen analog und digital. Handgeschriebene Post- und Grußkarten im Gegenstück zu der Flut von Social Media Messages. Die Abstraktionen spiegeln die beschleunigte und immer abstrakter erscheinende Welt wieder und fragen nach unserer Identität. Peer Kriesel nutzt dennoch auch digitale Werkzeuge für seine Arbeiten. Seit 2018 entstehen unter anderem skulpturale Installationen des Künstlers mit 3D Modellen: neben "Me so small" und "Hang Up" erschienen "Bubble" und die neuesten Miniaturen mit raren Automodellen. Wir haben ihn während seiner Pop Up Ausstellung "Übermalungen" im Village des POP KUDAMM interviewt.
Pop Kudamm:2012 hast du mit deinem Projekt "Übermalungen" begonnen. Wie kamst du auf die Idee?
Peer Kriesel:Die "Übermalungen" sind seit 2012 ein fester Bestandteil in meinem Gesamtwerk, das sich stets um das Thema "Identität und Werte im digitalen Zeitalter und in einer digitalen Gesellschaft dreht". In dieser Werkreihe nutze ich „gestaltete“ Printprodukte als Maluntergünde, die in ihrer ursprünglichen Funktion ausgedient haben. Dabei verwende ich unterschiedlichste Materialien. Den Start machten die Berliner Fahrkarten und entwickelte sich bis heute weiter, über Eintrittskarten, Postkarten, Atlaskarten bis hin zu großformatigen Seekarten.
Die BVG-Fahrkarten hatten und haben für mich immer noch einen besonderen Reiz, weil sie nur für diese kurze Distanz vom Automaten bis hin zum „Entwerter“ einen reellen Wert haben. Nach der Fahrt ist es nur noch ein Stück Altpapier, jedoch emotional aufgeladen mit dieser bestimmten Fahrt, dem Ziel den Begegnungen. Dieses Spannungsfeld fasziniert mich. Zudem werden diese haptischen Erinnerungen immer rarer. Anstelle von Eintrittskarten und Flugtickets aus Papier verwenden wir QR-Codes und digitale Wallets. Anstelle von nur wenigen sehr konzentrierten Erinnerungsfotos sammeln wir Massen an digitalen Schnappschüssen auf unseren Smartphones und Rechnern. Es werden selten noch analoge handgeschriebene Post- oder Grußkarten verschickt. Stattdessen sind es zusammenkopierte WhatsApp-Nachrichten. Zum Schluss sind es so viele Daten, dass wir sie gar nicht mehr überblicken. Neben der Erinnerung, die diese haptischen Fundstücke aus Papier in sich tragen, geht auch immer mehr Originalität verloren. So sind die Übermalungen stark inspiriert durch das Zeitalter der Digitalisierung. Es geht um Werte, die Beschleunigung der Kommunikation, die Veränderung der Wahrnehmung und den inflationären Konsum von Kunst und Medien. Je mehr Leben und Vorgeschichte in den Objekten stecken, desto interessanter sind diese für mich. Gestaltungselemente, Aufdrucke und verwischte, teilweise verblasste Stempelfarbe sowie Flecken und Risse dienen mir dabei als Inspirationsquelle.
Die BVG-Fahrkarten hatten und haben für mich immer noch einen besonderen Reiz, weil sie nur für diese kurze Distanz vom Automaten bis hin zum „Entwerter“ einen reellen Wert haben. Nach der Fahrt ist es nur noch ein Stück Altpapier, jedoch emotional aufgeladen mit dieser bestimmten Fahrt, dem Ziel den Begegnungen. Dieses Spannungsfeld fasziniert mich. Zudem werden diese haptischen Erinnerungen immer rarer. Anstelle von Eintrittskarten und Flugtickets aus Papier verwenden wir QR-Codes und digitale Wallets. Anstelle von nur wenigen sehr konzentrierten Erinnerungsfotos sammeln wir Massen an digitalen Schnappschüssen auf unseren Smartphones und Rechnern. Es werden selten noch analoge handgeschriebene Post- oder Grußkarten verschickt. Stattdessen sind es zusammenkopierte WhatsApp-Nachrichten. Zum Schluss sind es so viele Daten, dass wir sie gar nicht mehr überblicken. Neben der Erinnerung, die diese haptischen Fundstücke aus Papier in sich tragen, geht auch immer mehr Originalität verloren. So sind die Übermalungen stark inspiriert durch das Zeitalter der Digitalisierung. Es geht um Werte, die Beschleunigung der Kommunikation, die Veränderung der Wahrnehmung und den inflationären Konsum von Kunst und Medien. Je mehr Leben und Vorgeschichte in den Objekten stecken, desto interessanter sind diese für mich. Gestaltungselemente, Aufdrucke und verwischte, teilweise verblasste Stempelfarbe sowie Flecken und Risse dienen mir dabei als Inspirationsquelle.
Pop Kudamm:2023 hast du deine Werke "Übermalungen" sogar in einem Buch veröffentlicht. Das Buch ist Achim gewidmet, deinem Ur-Onkel, für den du eine ganze Serie an Übermalungen von alten Postkarten und Papieren der Familie angefertigt hast. Kannst du uns mehr zu dieser Serie erzählen. Wie emotional war die Anfertigung und wie wichtig ist dir Emotionalität im Allgemeinen in deinen Werken?
Peer Kriesel:Die Achim-Serie ist sehr emotional. Gerade weil dieser Mann, den ich auch persönlich noch kannte, ein so bewegtes Leben hatte, das durch unterschiedliche Papiere, Zettel, Dokumente und Fotos für die Nachwelt dokumentiert ist. Ich habe angefangen, dieses unstrukturierte und ungeordnete Material nach und nach zu übermalen, damit in einen heutigen Kontext zu setzen und wieder zu neuem Leben zu erwecken. Mich fasziniert diese extreme Limitierung des Materials, die Reduktion auf das Wichtigste, es handelt sich um ein ganzes Leben eines Mannes, gesammelt in nur einer Box. Heute sammeln wir Daten über Daten, alles strukturiert und digital optimiert.
Pop Kudamm:In deinen Arbeiten beschäftigst du dich mit dem Thema "Identität und Werte, im Zeitalter des digitalen Wandels und der digitalen Gesellschaft". Wie ist deine Sicht auf den Wandel ins Digitale?
Peer Kriesel:Naja, natürlich bietet die digitale Welt auch viele Vorteile und Praktikabilität. Mit dieser Geschwindigkeit, die uns die digitale Welt bietet, können wir Menschen aber nur schwer mithalten. Wir stehen in einem ständigen Austausch, im Chat, wir sind überall erreichbar und wir sind auch in einem ständigen Vergleich. Wir optimieren uns und die Welt immer weiter. So treten aber Dinge in den Hintergrund, die uns wichtig waren. Ruhe, sich die Zeit nehmen, auf Sachen einzugehen oder auf uns wirken zu lassen, ohne sie fast manisch zu versuchen, mit der Smartphone-Kamera einzufangen, um dann zum nächsten zu hechten, um nicht der FOMO (Fear Of Missing Out) zu unterliegen. Wir schreiben keine Geburtstagsgrußkarten mehr mit der Hand, wir erhalten kopierte WhatsApp-Nachrichten. Wir unterliegen einer stetigen digitalen Angleichung, wo die Originalität und Identität oft fehlt. Werte bzw. Wertvorstellungen verändern sich ebenfalls, copy and paste wird immer einfacher.
Pop Kudamm:Zwar arbeitest du überwiegend analog – mit Aquarell-/Acrylfarbe und Pigmenttinte auf Papier, wendest dich jedoch auch dem Digitalen zu. So entstehen seit Jahren digitale Wimmelbilder oder Abstraktionen von Fratzen und Masken. Wie kam es dazu?
Peer Kriesel:Auch wenn die analoge Arbeit mein Schwerpunkt bildet, arbeite ich schon immer auch mit digitalen Werkzeugen. Diese entwickeln sich stetig weiter und es macht Spaß, diese auch zu nutzen. Die abstrahierten „Fratzen“, die durch kalligraphische Linien in mehreren Ebenen und Schichten aufgebaut werden, spiegeln die immer schneller werdende und mehr abstrakt erscheinende Welt wider und sind vielleicht auch unsere sich auflösende Identität. Betrachtet man meine Werkreihen, so wirkt es, als würde der Betrachter noch tiefer, eine Ebene weiter, in das „Gewimmel“ eintauchen können und dabei mitten im Geflecht von Linien schweben – fast meditativ. Die Arbeiten der "FRTZNABSTRCTN-Reihe" sind damit eine Makroaufnahme, ein Blick ins Mikroskop, wobei trotz Vergrößerung alles abstrakt erscheint. In dieser Werkreihe werden viele der Arbeiten digital gezeichnet und dann auf hochwertigem Papier einmal gedruckt und signiert. Jede Fratzenabstraktion ist ein Unikat und damit einzigartig.
Pop Kudamm:Künstliche Intelligenz ist zurzeit ein großes Thema und findet bereits Einsatz in vielen Bereichen, so auch in der Kunstwelt. Was denkst du darüber?
Peer Kriesel:Nach Blockchain, Metaverse ist jetzt das Thema AI in aller Munde. Obwohl uns KI schon lange umgibt, ohne dass wir scheinbar groß davon Notiz genommen haben, ist diese enorm schnelle Entwicklung dieser Programme wie ChatGPT etc. atemberaubend, aber auch gleichzeitig beängstigend. Diese technische Entwicklung der KI ist wahrscheinlich eine der größten technische Revolutionen seit Menschengedenken und wird viele Bereiche unseres Lebens umkrempeln. Was in der Bild-, Video- oder Musik-Generierung durch AI möglich ist, ist unglaublich. Es kann ein sehr starkes Werkzeug sein. Dennoch wird uns im Bereich der AI generierten Kunst doch sehr bewusst, was den Menschen und sein Schaffen ausmachen.
Pop Kudamm:Außerdem präsentierst du deine digitalen Arbeiten auf unterschiedlichsten Plattformen als NFTs und hast einen kurzen Essay über NFTs und die Kunstwelt geschrieben. Kannst du uns mehr darüber erzählen? Wie verändert die Blockchain Technologie den Kunstmarkt deiner Meinung nach?
Peer Kriesel:NFT war das große Thema, bevor es jetzt von KI abgelöst wurde. Ich interessiere mich sehr für neue Technologie und damit auch das ganze Thema Blockchain mit diesem dezentralen Ansatz. Auch wenn ich seit 2021 Kunstwerke als NFTs veröffentliche und einige Werke als NFT verkauft habe, bin ich mit einer Prognose vorsichtig. Die Zeit hat gezeigt, dass es ständig neue Entwicklungen gibt. Momentan ist der NFT-Markt eher im Keller, die Sammlerleidenschaft ist überschaubar, aber für digitale Kunst ist das handelbare NFT natürlich eine Möglichkeit. Ich bin gespannt, wie es da weitergeht.
Pop Kudamm:Im POP KUDAMM stellst du deine Arbeiten "Übermalungen" derzeit aus. Was können unsere Besucher hier erwarten?
Peer Kriesel:Ich bin super glücklich über die Möglichkeit, diese kleine Ausstellung im Village des POP Kudamm zu präsentieren. Natürlich zeige ich passend zum ausrangierten Seecontainer, in dem die Werke zu sehen sind, zwei meiner übermalten Seekarten. Daneben gibt es Atlaskarten, neue übermalte Postkarten und natürlich ein paar übermalte BVG-Tickets zu sehen und zu erwerben – als Original oder auch als limitierten (kostengünstigeren) Editions-Druck. Ich freue mich über diese spontane Gelegenheit, die Arbeiten live zu zeigen, weil sie erst so wirklich wirken und der Betrachter oder die Betrachterin die ganzen Details entdecken kann. Ich lade alle herzlich ein, mal rumzukommen!
Pop Kudamm:Was würdest du jungen KünstlerInnen mit auf dem Weg geben, um in der Kunstwelt erfolgreich zu sein?
Peer Kriesel:Oh, das ist schwer zu beantworten. Ich denke, wenn man sich treu bleibt und einen künstlerischen Ausdruck für sich gefunden hat und diesen stetig und konsequent weiterentwickelt, wird damit Erfolg haben.
About:
Peer Kriesel ist 1979 in Berlin geboren. Nach mehr als 15 Jahren als kreativer Kopf in der Agentur- und Werbewelt arbeitet er nun primär wieder als Künstler und freier Designer in Berlin. Er beschäftigt sich in seinem Werk mit dem Thema Identität und Werte im Zeitalter des digitalen Wandels und der digitalen Gesellschaft.Der Informations- und Datenüberfluss – gerade mit Blick auf das Internet und die Sozialen Medien –, deren Auswirkungen und die offenbar zunehmende Verwirrung der Gesellschaft, Politikverdrossenheit – geprägt von Krieg und fehlender Solidarität –, der Konflikt zwischen den alten Werten und dem neuen Schönen, all dies sind Themen, die Peer Kriesel in seinen Arbeiten aufgreift.
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