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Interviews
Veröffentlicht am 24.05.2023

Avantgarde einer Mode Ikone

Rudi Gernreich war seiner Zeit ein Pionier der Modeindustrie. Er entwarf in den 1960er Jahren Kleidungsstücke, die die traditionellen Geschlechterrollen in Frage stellten und den Körper befreiten. Seine ikonographischen Seidentücher weckten die Sammelleidenschaft von Frank Wilde und Paul Graves. Aus Vintage Stores, Online Auktionen und anderen Orten, rund um den Globus trugen sie schrittweise eine der größten Sammlungen zusammen. Diese Leidenschaft mündete in einer Installation aus Objekt und Fotografie, der Ausstellung "Tutti Frutti...oh Rudi!", die uns in eine wirkungsträchtige, vielschichtige Farb- und Formwelt mitnimmt. Die Kuratorin Karin Kruse und der Künstler und Gründer eines eigenen Modelabels, Paul Graves, erzählen uns wodurch sie zu dieser außergewöhnlichen Ausstellung inspiriert wurden und welche avantgardistischen Bewegungen bis heute nicht an Wirkung verloren haben.
Pop Kudamm:Was hat euch persönlich inspiriert Rudi Gernreichs Seidenschals zu sammeln?
Paul Graves:Alles beginnt mit einem Geschenk. Der Seidenschal, den ich Frank gegeben habe. Durch sein einzigartiges Design wurde uns schnell klar, dass Rudis Seidenschals ziemlich unterschätzt wurden. Er nahm ein eher bourgeoises Kleidungsstück und machte es zu einem Teil eines avantgardistischen Statements. Die Idee, ein Seidentuch komplett in einem Look zu bedrucken, war revolutionär. Das wurde jedoch im allgemeinen Gerede über Rudi ignoriert. Das er in vielerlei Hinsicht so bahnbrechend war, scheint vielen entgangen zu sein. Mehrere der Seidenschals wurden in den 1960er Jahren von seinen schwarzen Alteliermitarbeitern entworfen. Das ist auch ein weiterer Beweis für die revolutionäre Herangehensweise in allem, was er tat. Er war integrativ, bevor es überhaupt zu einem gesellschaftlichen Gesprächsthema wurde. Lange bevor ein anderer Designer seinen Namen auf diese Weise brandmarkte, hatte er die Kühnheit, die Seidenschals mit seinem Namen zu versehen. Die plakativen Buchstaben und Zeichen auf den Seidentüchern hatten schon vor Andy Warhols Suppendosen einen Pop Art Ansatz. Im Grunde stellen die Seidentücher, wenn man es simpel interpretiert, ein Quadrat aus Mustern und Farben dar. Hinter dem Offensichtlichen steckt jedoch viel mehr.
Pop Kudamm:Was begeistert euch an der Arbeit Gernreichs am meisten?
Paul Graves:Rudi war ein Aktivist und ein Pionier. Irgendwie schaffte er das ohne eine große Fahne zu schwenken. Politik ist heute so prominent, dass sie immer eine Erklärung und Definition bedarf. Rudi lebte das einfach. Entweder der Betrachter und Konsument versteht das, oder eben nicht. Er war sehr laut, aber gleichzeitig auch sehr leise. Ich denke, das ist eine Form von Aktivismus, die in der heutigen "Insta"-Gesellschaft verloren geht. Heute sind wir für das eine, morgen für das nächste, und das alles scheint immer jetzt relevant und wichtig zu sein. Rudis Leben summiert sich zu einem Werk, das in seiner Intention und Botschaft klar war. Und es lag an dem Betrachter und Benutzer das zu verstehen.
Pop Kudamm:Paul, du bist Regisseur zahlreicher preisgekrönter Musikvideos und Gründer eines eigenen Modelabels. Lässt du dich von Gernreichs Designs inspirieren? Und wenn ja, wie?
Paul Graves:Für mich ist Rudis größte Inspiration nicht ein Objekt oder eine Sache, sondern die Art und Weise, wie er lebte und seine Realität meisterte. Er war unverblümt in seiner Herangehensweise. Er nahm die Dinge aus einer sehr pragmatischen, trockenen Perspektive und machte sie humorvoll, sexy und abenteuerlich. Ein gutes Beispiel ist das Design seiner Parfumflasche. Das ist ein Labormessbecher. Der ist so "dada", trocken, funktional, einfach und lustig. Tatsächlich einer der besten Flakons, die ich kenne.
Pop Kudamm:Karin, du kuratierst die Ausstellung „Tutti Frutti... Oh Rudi! gemeinsam mit Paul Graves und Frank Wilde und bist seit über 20 Jahren Mitinhaberin der Talent-Agentur „Dee Bee Phunky“. Wie habt ihr zueinander gefunden?
Karin Kruse:Paul und ich haben uns schon mehrfach kennengelernt. Er hat zu Zeiten der Galerie Tristesse Deluxe Galerie, ein Bild von sich bei uns ausgestellt. Auf einer seiner legendären Parties auf dem Deck seines Pariser Hausboots haben wir uns dann richtig kennengelernt. Am nächsten Morgen beim gemeinsamen Putzen und Albern Sein, war dann klar: Wir werden und sind ab sofort dicke Freunde. Ich habe dann als Kurierdienst einen von Paul geschätzten Gernreich Schals zu Frank Peter Wilde nach Berlin gebracht. Ich war damals schon sehr respektbeseelt als Paul mir die schöne Schachtel überreicht hat und meinte der Inhalt sei 600 Dollar wert.
Pop Kudamm:Inwieweit können Talentagenturen dazu beitragen Geschlechterrollen zu verändern und die Repräsentanz von LGBTQIA+ KünstlerInnen zu verbessern?
Karin Kruse:Wir arbeiten an dieser Thematik ja schon von Anfang an. Uns hat die Normativität von Models und die Synchronizität nicht wirklich interessiert. Klar können und machen wir das manchmal auch, aber das Interessante ist doch Typecast und die Vielfalt der Menschen. Momentan ist in der Medienlandschaft schon sehr viel passiert. Es gibt kaum noch eine gute Serie ohne starke Frauen, keine Werbung ohne POC’s und genderübergreifende Charaktere oder gleichgeschlechtliche Paare. Tatsächlich kann man sich fragen, wie schnell sich dieses Image in dieser manchmal doch noch sehr verkrusteten Struktur der Gesellschaft durchsetzt. Wir dürfen nicht vergessen: Wir leben in einer der weltoffensten Städte, Berlin, und bekommen in unserer Blase nicht mit, wie es auf dem deutschen Lande oder in der Kleinstadt aussieht. Die politischen Randparteien und ihr Zulauf sprechen da nämlich eine andere Sprache. Talentagenturen, die den Puls der Zeit und diesen Wandel repräsentieren, haben derzeit auf jeden Fall die Nase vorne und brechen Klischees auf, die sich mit der Nachkriegszeit etabliert haben. Ich schaue selbst kaum Vorabendserien, aber ich war vor kurzem in einem Hotel und hatte den Fernseher laufen. Da erschien eine nicht binäre Person mit Dirndl im Forsthaus Falkenau oder einer ähnlichen voralpinen Serie. Das hat mich gefreut, dass inzwischen auch in solchen Formaten divers besetzt und mal eine andere Geschichte erzählt wird.
Pop Kudamm:In der Ausstellung „Tutti Frutti... Oh Rudi!“ im POP KUDAMM nimmt die Installation mit auf eine Zeitreise in ein halbes Jahrhundert zurückliegende Farb- und Formwelten. In den 50er Jahren war der Kurfürstendamm ein schimmernder Ort, vor allem für die Konkurrenz zur Ostberliner Tristesse des Mangels und ist heute vor allem die höchst frequentierte Shoppingmeile Berlins. Wie wichtig ist der Wandel der Zeit für die Mode?
Paul Graves:Mode ist ein starkes persönliches Statement. Einige haben sie gemeistert. Andere haben sie ignoriert. Wir alle ziehen uns morgens an, um uns wieder auszuziehen. Kleidung ist ein Spiegelbild von Stimmung, Macht, Reichtum, Armut, Politik und Träumen. Kleidung ist ein politisches Statement, mit oder ohne dein Wissen. Eine Kunstform, die auf ein Konsumprodukt reduziert wurde. Aber wir alle kennen das graue Bild einer Welt ohne Farbe und Freiheitsgeist. Wenn wir die Gesichter der vielen Käufer auf der Straße betrachten, sehen wir wie ein kleiner Traum wahr wird, wenn sie eine Jeans kaufen. Oder sie sparen ihr hart verdientes Geld für ein neues T-Shirt. Es ist eine Grundvoraussetzung, dass wir alle Teil davon sind, uns anzukleiden.
Pop Kudamm:Wie habt ihr den Standort POP KUDAMM für eure Ausstellung zu Gernreichs ikonischen Seidentüchern empfunden?
Paul Graves:Als ich zum ersten Mal im POP KUDAMM war, hat es mich umgehauen. Ein offener und freier Raum für alle. Auf dieser Haupteinkaufstraße steht ein silberner, glänzender Container. Die kalten, harten, silber-reflektierenden, gewellten Wände bilden einen perfekten Gegenpol zu den weich fließenden Seidenstoffen. Eine Inspiration für die 80 Meter lange Installation, den "Fotodrachen", der in der Mitte des Raumes schwebt. Ich meine, man konnte sich kein besseres Meta-Erlebnis wünschen. Wir schreiben das Jahr 2023 und wenn es dem Publikum gelingt, ihre Bildschirme zur Seite zu legen und einen Raum zu betreten, muss das Erlebnis großartig sein. Die Größe des Raumes ermöglicht ein Spiel mit Texturen, Farben, Dekoration, Ornamenten und schafft Bewegung. Dieser Traum-Raum inspirierte die Installation. Einfach gesagt, es machte uns sehr glücklich die erst Ausstellung "Tutti Frutti…Oh Rudi" hier im POP KUDAMM umzusetzen. Der Raum hat die Arbeit inspiriert und ich hoffe, dass unsere Arbeit die Betrachter inspiriert.
Pop Kudamm:Inwiefern hat Rudi Gernreich die Modeindustrie revolutioniert. Denkt ihr, dass heute immer noch mehr gemacht werden könnte in Richtung Bodypositivity und der Veränderung von Geschlechterrollen?
Paul Graves:Rudi ist das, was man einen Erfinder der Designer nennen kann. Seine Arbeit wurde von allen großen Designern der 1980er Jahre kopiert. Aber oft ohne den politischen Unterton. Ich glaube, dass die Geschichte der Body-Positivity sich im Laufe der Zeit fortsetzen wird. Mode hat sich schon immer für einen bestimmten Körpertyp eingesetzt. Es ist eine endlose Suche und ein Finden. Es scheint, als würden wir an einem bestimmten Punkt zurückkehren und für etwas kämpfen, das in einer anderen Zeit und Epoche längst erkämpft wurde. Dadurch kann jeder heute eine eigene Position vertreten. Du kannst es laut aussprechen oder einfach in der Stille der eigenen Arbeit repräsentieren. Mode verändert sich, deshalb heißt sie Mode. Politische Botschaften und Ideen werden immer Teil dieses Wandels sein.

About:

Paul Graves
Paul Graves studierte Kunst, ist Regisseur zahlreicher preisgekrönter Musikvideos und Gründer eines eigenen Modelabels. Bekannt ist er vor Allem für seine Stillleben – Fotografie, die weltweit veröffentlicht wird.

Karin Kruse
Als Mitbegründerin der Galerie Tristesse Deluxe kurarierte und gestaltete Sie besucherstarke Ausstellungen der 2000er Jahre. (u.a. Tristesse Deluxe goes Wallstreet, The Future of Past). Danach im freien Rahmen Kurationen von thematischen Ausstellungen wie „Family No Family”, „Frontside / Backside” und Mitkuration für das Kreuzberger Kunstfenster WOMA – Window of Modern Art. Seit über 20 Jahren ist sie Mitinhaberin einer in Berlin ansässigen Talentagentur.

Header Foto: Nihal Uensal
Bilder: Paul Graves


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